Der Tote am Tor
Von Axel Baumgart
„Scheiße, so eine Scheiße.“
Das war alles, was Kommissar Haberkorn sagte,
als er die Meldung auf seinem Schreibtisch sah. Ein Toter am Freitagmittag.
Damit war jetzt schon klar, er würde zu seiner eigenen Grillparty zu spät
kommen, viel zu spät.
Ein toter Mann und ein total verbeultes
Fahrrad im Grünstreifen an der großen Kreuzung am Eschenheimer Tor in
Frankfurts Innenstadt. Wahrscheinlich eine klare Sache. Verkehrsunfall mit
Todesfolge und Fahrerflucht. Er würde nicht viel machen können, außer alles
sorgfältig aufzunehmen. Und das dauerte eben seine Zeit. Anschließend den
Bericht schreiben und dann würde er der Letzte auf seinem kleinen Fest sein.
Mist. Warum konnte das denn immer noch nicht die Verkehrspolizei machen?
Am Unfallort war schon alles abgesperrt, als Haberkorn ankam.
Der Tote lag noch im Gebüsch, das Rad neben ihm. Die Wucht des Zusammenstoßes
könnte ihn dort hingeschleudert haben. Wahrscheinlicher war es jedoch, dass der
Fahrer des Wagens ihn in den Grünstreifen gezerrt und dort liegenlassen hatte.
So ein Mistkerl.
Haberkorn betrat vorsichtig den Grünstreifen, darauf achtend,
die neuen Schuhe, die seine Frau ihm zum Geburtstag geschenkt hatte, nicht
allzu sehr zu verdrecken.
“Wer hat ihn gefunden?“
„Der Betreiber der Pommesbude da hinten. Heute Morgen.“
„Und?“
„Nichts. Hat ihn gefunden. Da war er aber schon tot.“
„Hat jemand etwas angefasst, etwas verändert?“
„Soweit wir feststellen können, nein!“
Haberkorn schaute sich alles genau an. Ein komisches Gefühl
beschlich ihn. Er hätte gestern nicht so scharf essen sollen. Und dann noch der
Kaffee bevor er losgefahren war… In spätestens 10 Minuten würde er eine Toilette
brauchen. Er fing an zu schwitzen. Zum Glück war gegenüber das ’Alex’.
Aber da war noch etwas anderes. Etwas, das nichts mit Chili und
Kaffee zu tun hatte. Irgendwas stimmte hier nicht. Er würde später darüber
nachdenken. Jetzt musste er erst einmal rüber ins ’Alex’.
Als er wieder an seinem Schreibtisch saß, um den Bericht zu
schreiben, nahm er die randlose Brille ab, rieb sich den Nasenrücken und rief
sich den Unfallort noch einmal ins Gedächtnis. Was hatte ihn gestört? Da fiel
es ihm ein.
Jemand musste den Toten, dessen Personalausweis ihn als Geert
Siemer auswies, vor dem Imbissbudenbetreiber gefunden haben. Das Opfer hatte
eine Aktentasche dabei gehabt. Sie war leer und der Inhalt lag daneben,
säuberlich auf einem Haufen. Hätte sich die Tasche bei dem Unfall geöffnet,
wären Siemers Sachen überall auf der Strasse verstreut worden. Doch da hatten
sie nichts gefunden. Die Aktentasche des Toten war vorsichtig ausgeleert
worden, und das Eigentum des Toten neben der Tasche wirkte fast, ja, wirkte
fast wie … sortiert. Nein, jemand hatte den Mann vor dem Imbissbudenbetreiber
gefunden und seine Sachen durchsucht. Seltsam war dabei auch, dass
offensichtlich alles von Wert noch da gelegen hatte.
Neben seinem Personalausweis war auch sein Betriebsausweis der Dresdner
Bank, Geld, ein Luxus-Handy sowie drei Montblanc Stifte gefunden worden.
Haberkorn hatte nie verstanden, warum man sich Stifte für vierhundert Euro
kaufte. Pro Stück! Von diesem Geld würde er seine Familie und sich ein Leben
lang mit Papier und Stiften versorgen können.
Er war froh, dass ein Kollege der Verkehrspolizei die
Angehörigen verständigt hatte. Der Kommissar hasste das. Er schrieb den Bericht
zu Ende und beschloss, die Gerichtsmedizin anzuweisen, bei der veranlassten
Obduktion sehr genau hinzuschauen. Dann fuhr er nach Hause, um zu sehen, was
ihm seine Gäste übrig gelassen hatten. Am Montag würde er sich mit seinem
Kollegen Schlaudraff über seine Entdeckung austauschen.
„Und was machen wir jetzt? Wir haben einen Toten, offensichtlich
eine Fahrerflucht, keinen Unfallzeugen, durchsuchte Sachen ohne Diebstahl, wie
es scheint, und wir haben keine Anhaltspunkte.“
„Weißt du, Johannes“, antwortete Schlaudraff und drehte sich zu
Haberkorn, „ich habe letztens im Blitz – Tip gelesen, dass die Stadtverwaltung
von Frankfurt Web-Cams an einer Reihe von Kreuzungen im Stadtzentrum
installiert hat. Vielleicht haben wir ja Glück.“
„Web-Cams?“
„Ja, Kameras, die ungefähr jede Minute ein Bild ins Internet
schicken. Vielleicht werden die Bilder ja aufgezeichnet und mit etwas Glück ist
das Eschenheimer Tor dabei.“
Sie hatten Glück und der Kommissar verbrachte den ganzen Tag
damit, die etwa dreihundert Einzelbilder, die die Kamera zwischen zehn Uhr in
der Nacht und drei Uhr am Morgen gemacht hatte, zu analysieren. Nach fünfzig
Bildern war ihm schon langweilig, nach hundert war es schwer, nach
hundertfünfzig fast unmöglich, die Bilder auseinander zu halten und
Unterschiede zu erkennen. Alles sah gleich aus, mal zwei, mal eines, auch mal
kein Auto, an verschiedenen Stellen der Kreuzung, immer wieder.
Dann war da aber doch etwas. Bei den letzten drei Bildern war
sich Haberkorn sicher, dass er ein Bild schon gesehen hatte. Aber die auf dem
Foto gezeigte Uhrzeit machte deutlich, dass es sich um unterschiedliche
Aufnahmen handelte. Auf dem ersten Bild stand ein dunkles BMW Cabrio an der
Ampel. Von rechts, aus dem Westend, kam ein Radfahrer. Auf dem Zweiten war der
Radfahrer nicht mehr zu sehen, aber der Wagen stand etwas weiter vorne, so dass
er gerade noch am Bildrand zu sehen war. Der Radfahrer könnte also ein Stück
vor dem Auto liegen und von der Kamera nicht erfasst worden sein. Das dritte
und vierte Bild sahen aus wie das zweite, bis auf die angegebene Uhrzeit
natürlich.
Hatte er den Unfallwagen und den Unfall gesehen?
Er rief seinen Kriminalassistenten Schlaudraff hinzu. Das erste
Bild war um 01 Uhr 37 Minuten 53 Sekunden, das letzte um 01 Uhr 41 Minuten 29
Sekunden aufgenommen. Was war in diesen drei Minuten und sechsunddreißig
Sekunden passiert?
Sie schauten alle Fotos noch einmal durch, aber sie fanden
keinen anderen Wagen, der so lange auf der Kreuzung gestanden hatte und während
dessen auch ein Radfahrer zu sehen war. Zwanzig Minuten vor zwei Uhr in der
Nacht. Das Kino hatte zu, wie auch alle Lokale in der Nähe. Das würde erklären,
warum es keine Zeugen gab. Sie hatten endlich eine Spur.
Jetzt mussten sie den Wagen finden. Aus Datenschutzgründen waren
die Fotos so unscharf, dass man kein Nummernschild erkannte. Alles, was sie
sehen konnten, war ein dunkles BMW Cabrio, wahrscheinlich aus der sechser
Baureihe, und eine Person, vermutlich ein Mann, am Steuer auf dem ersten Bild.
Auf den drei folgenden Aufnahmen war das Fahrzeug leer.
“Gib ´ne Suche raus: Dunkles BMW Cabrio, eventuell sechser Reihe,
mit Frontschaden. Stoßstange und Motorhaube, vielleicht auch Scheinwerfer. Alle
BMW- und alle freien Werkstätten, die heute oder in den nächsten Tagen so einen
Wagen zur Reparatur bekommen, sollen sich bei uns melden, “ ordnete Haberkorn
an.
„Mach ich, Chef“, antwortete Schlaudraff. „Hast du übrigens den
Obduktionsbericht gelesen?“
„Ist der schon da? Wo?“
„Auf deinem Schreibtisch. Siemer ist nicht an den Unfallfolgen
gestorben. Den Aufprall hätte er wahrscheinlich überlebt. Er ist erstickt
worden.“
„Scheiße, du meinst Mord?“
„Ja!“
„Todeszeitpunkt?“
„Zwischen ein Uhr dreißig und drei Uhr dreißig.“
„Passt ja prima. Jetzt brauchen wir diesen Dreckskerl nur noch
zu finden und zu überführen.“
„Wie war eigentlich der Grillabend?“
„Nach allem, was ich gehört habe, wirklich gut. Als ich endlich
kam, waren die meisten leider schon gegangen.“
„So ein Mist.“
„Du sagst es.“
Sie nutzten die nächsten Tage, um die Familie, Freunde und
Bekannten des Toten zu befragen. Er war ein liebevoller Ehemann, guter Sohn und
hilfsbereiter Nachbar gewesen. Unter Kollegen galt er, obwohl seine Tätigkeit
bei der Betriebsrevison ihn nicht wirklich beliebt gemacht hatte, als
umgänglich und fair. Siemer hatte keine offensichtlichen Feinde gehabt. So
kamen sie nicht weiter.
Am Mittwoch endlich meldete sich eine Werkstatt. Ein 630i Cabrio
war zur Reparatur gebracht worden. Der Besitzer sagte, seine Frau habe beim
Parken nicht aufgepasst und sei gegen eine Wand gefahren. Sofort machten sich
Haberkorn und Schlaudraff auf den Weg.
Wie sich herausstellte, gehörte der Wagen Jonas Eckström. Die
Schäden deuteten stark auf einen Verkehrsunfall hin. Aber das zu bestätigen war
Sache der Spurensicherung.
Eckströms Haus war am Lerchesberg im Süden von Frankfurt. Alles
sah hier nach Geld aus. Nach viel Geld. Die Häuser, die Vorgärten, sogar die
Autos, die keinen Platz mehr in den großen Garagen gefunden hatten. Der Mann,
der auf ihr klingeln hin die Tür öffnete, war bestenfalls Anfang 30, also gut
zehn Jahre jünger als Haberkorn, trug ein hellblaues Hemd auf einer Jeans und
hatte Ledersandalen an den sonst nackten Füßen.
„Ja, bitte?“
„Herr Eckström? Jonas Eckström?“
„Ja.“
„Ich bin Kommissar Haberkorn, das ist mein Assistent
Schlaudraff. Sie hatten mit ihrem BMW, Kennzeichen F-JE-2000, einen
Verkehrsunfall?“
Sie hatten entschieden, ihn sofort mit ihrem Verdacht zu
konfrontieren, um seine Reaktion zu beobachten. Eckström schaute kurz zu Boden,
dann sah er sie an und sagte:
„Ich bin also gesehen worden?“
Haberkorn beantwortete die Frage nur mit einem knappen Lächeln.
„Aber bitte kommen Sie doch herein.“
Nachdem er im Wohnzimmer Kaffee angeboten und die Polizisten
abgelehnt hatten, begann er zu erzählen:
„Letzten Donnerstag hatten wir von der Abteilung eine kleine Feier.
Es ist spät geworden. Auf dem Weg nach Hause wollte ich am Eschenheimer Tor
noch eine Bratwurst essen, aber alles hatte schon zu. Auf dem Nachhauseweg habe
ich an der Ampel den Radfahrer übersehen. Bevor ich reagieren konnte, hatte es
schon geknallt. Natürlich bin ich sofort ausgestiegen und habe nach ihm
geschaut. Er war tot. Da hab’ ich völlig die Nerven verloren, ihn ins Gebüsch
gezerrt und bin weggefahren. Wissen Sie, irgendwie bin ich froh, dass Sie mich
gefunden haben. Ich glaube, ich hätte sonst nicht damit leben können.“
Haberkorn wusste nicht warum, aber er glaubte ihm nicht,
beziehungsweise er glaubte nicht, dass das schon alles war. Um Zeit zu gewinnen
fragte er, sich im Zimmer umblickend:
„Wo arbeiten Sie eigentlich?“
„Ich bin Devisenhändler bei der Bank mit dem grünen Band der
Sympathie.“
Er nahm eine wertvoll aussehende Porzellanfigur in die Hand.
„Habe einige Male wirklich Glück gehabt, oder den richtigen
Riecher.“
‚Er ist ein Banker und dann auch noch bei der gleichen Bank wie
der Tote’, schoss es Haberkorn durch den Kopf.
„Dann kannten Sie Herrn Siemer?“
„Siemer ? Ist das …?“
„Ja. Er hat bei der gleichen Bank gearbeitet wie Sie.“
„Ein Kollege, wie furchtbar. Schrecklich. Nein, ich kannte ihn
nicht. Wissen Sie, hier in der Zentrale arbeiten so viele Menschen. Die meisten
laufen an einem vorbei und man merkt sich nicht einmal das Gesicht.“
Haberkorn konnte schon nicht mehr zählen, wie oft er das schon
so oder so ähnlich gehört hatte. Er konnte es nicht nachvollziehen. Er vergaß
selten ein Gesicht.
„Können Sie sich vorstellen, warum er so spät noch unterwegs
war?“
„Ach, in der Zentrale wird oft sehr lange gearbeitet. Das ist
gar nicht so ungewöhnlich, wie Sie vielleicht denken.“
Sie saßen wieder im neuen Polizeipräsidium an der Miquelallee.
„Da stimmt doch was nicht. Ich glaube nicht an solche Zufälle.
Irgendetwas fehlt. Er hat nicht alles erzählt.“
Haberkorn war sich ganz sicher.
„Aber es könnte doch so gewesen sein. Er hat ihn angefahren, den
Bewusstlosen für tot gehalten, später kam ein anderer, fand ihn und erstickte
ihn.“
„Aber warum? Wo ist das Motiv? Alle Wertsachen waren noch da.“
„Gute Frage.“
Das Telefon klingelte.
„Haberkorn.“
…
„Ja.“
…
“Nein, weder noch. Warum fragen Sie?“
…
“Was? Sind Sie sicher?“
…
“Danke. Auf Wiederhören.“
Ohne seinem Assistenten zu sagen, was er erfahren hatte, ordnete
er nur kurz an:
„Du besorgst die Web-Cam Fotos bis vier Uhr am Morgen aus der
Unfallnacht und ich kümmere mich um einen Durchsuchungsbeschluss.“
Als Eckström ihnen zum zweiten Mal in dieser Woche die Tür
öffnete, wirkte er nicht mehr so freundlich wie beim ersten Mal.
„Sie kommen ungelegen …“
„Das tun wir meistens. Sie haben uns belogen, Herr Eckström. Sie
kannten Herrn Siemer. Er war bei der Hausrevision und hat Ihre betrügerischen
Eigengeschäfte entdeckt. Er wollte Sie Donnerstagnacht zur Rede stellen. Wir
haben einen Anruf Ihres Arbeitgebers erhalten, der uns darüber informierte und
nach wichtigen Unterlagen fragte, die Herr Siemer bei sich hatte. Wissen Sie, was
ich glaube? Das war gar kein Unfall!“
Eckström zwang sich zu einem Lächeln.
„Das müssen Sie erst beweisen.“
„Oh, das können wir. Wir haben Aufnahmen einer an der Kreuzung
am Eschenheimer Tor installierten Web-Cam, die beweisen, dass Sie um zehn Minuten
nach drei noch einmal am Tatort waren. Um elf Minuten nach drei kamen Sie mit
einem Ordner unter dem Arm aus dem Gebüsch. Herr Eckström, während meine
Kollegen die Unterlagen suchen“, er zeigte den Durchsuchungsbefehl, „packen Sie
am besten ein paar Sachen ein. Wenn wir finden, was wir suchen, werden Sie für
eine längere Zeit nicht nach Hause kommen.“
Sämtliche Farbe war aus Eckströms ausdruckslosem Gesicht
gewichen, als er langsam in sein Schlafzimmer ging.
Haberkorn dreht sich zum Ausgang und dachte: „Vielleicht bin ich
ja wenigstens zu meinem nächsten Grillabend pünktlich“, als er hinter sich den
Schuss hörte.
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